Party mit dem Größten. Mit Sidney Poitier

Der US-Schauspieler und Oscar-Preisträger Sidney Poitier war ein Vorbild – und eine Begegnung mit ihm ein Privileg. Erinnerung an einen magischen Abend in Los Angeles.

Partynacht in Beverly Hills. Das legendäre Restaurant Morton’s macht dicht und feiert sich noch mal selbst. Hollywoods Camelot nannte man es. Hof hielten hier Sylvester »Sly« Stallone, Angelina Jolie und die mächtigen Agenten, wie etwa die CAA-Powerbroker. Es brummt! Proppenvoll, überall makellose Schönheit. Viel Hollywood, jede Menge It-Girls, dazu eine riesige In-Crowd.

Durch die Menge surfend, merkt man sofort, dass es noch mehr gibt, ein anderes Energiezentrum. Umringt von vielen, erkennt man ihn sofort: Nicht das Lächeln, nicht die markanten Gesichtszüge, es ist die Ausstrahlung, die einen trifft wie ein ICE. Der legendäre Sidney Poitier, der Oscargewinner, oder wie man in LA sagt: Hollywood Royalty!

Er sieht mich, zeigt mit einem riesigen Zeigefinger auf mich, lächelt und winkt mich rüber. »Du schaust aus, als kommst du von weit her. What’s your story?« Aus Berlin! »Wow«, unterbricht er mich, »was bringt dich denn hierher?« Ich erzähle von meinem DAAD-Stipendiatenjahr in LA, und dass ich seither zwei bis sechs Wochen im Jahr hier sei. »Lovin’ it«, füge ich hinzu, »got californicated!«

Sidney Poitiers Lächeln wird wärmer, fast schon väterlich. »Was machst du so, my son, wie ist deine Ausbildung, was arbeitest du in Deutschland?« Journalist, gebe ich zurück, studierte Politik, Journalismus und BWL in Berlin und Los Angeles.

»Oh wow, zu meiner Zeit war das anders. Da gab’s so was wie dich nicht. Ich habe einen Volksschulabschluss.« – »Dich gab’s aber schon in meinem Leben«, gebe ich zurück. »Bin mir sicher, du hast nicht nur mich geprägt!« Lächeln. »Wieso?«

»Ich wette, deine Mami hat dich mit dem ›Banana Boat Song‹ gequält«

Ich erzähle von meiner Mutter, die meine Geschwister und mich mehrmals im Jahr einpackte und zu unserer Tante Gerti schleppte, die einen Fernseher hatte. Meine Mutter lehnte Fernsehen strikt ab, wollte, dass wir Kinder spielen. Aber meine Mutter hatte in ihrer Austauschstudentenzeit in London nach der Heirat meines Vaters Rassismus erlebt und wollte, dass ihre Kinder schwarze Rollenmodelle sehen. Dafür waren Filme für sie genau das Richtige. Und so kam es, dass wir alle paar Monate, meist sonntagnachmittags, bei Tante Gerti auf dem Sofa saßen. Es war immer ein Film mit Sidney Poitier. Wir haben »Lilien auf dem Felde« gefühlt 100-mal gesehen. Wir Kinder sangen die Songs mit, spielten die Szenen nach.

»Was? Du hast ›Lilies‹ 100-mal gesehen, weil’s deine Mami so geliebt hat?« Sidney Poitier biegt sich vor Lachen. »Ist ja unglaublich! Wie geht’s deiner Mutter? Grüß sie auf jeden Fall von mir. Wahrscheinlich mochte sie dann auch meinen alten Kumpel Harry Belafonte.« Es muss ein kurzer Augenblick des Leidens über mein Gesicht gehuscht sein. Poitier merkt es natürlich und lacht noch mehr. »Ich wette, deine Mami hat dich oft mit dem ›Banana Boat Song‹ gequält.« Um uns herum lachen immer mehr. Der klassische Generationskonflikt mit der Musik der Eltern scheint universal zu sein.

Poitier erzählt von seiner Zeit mit Harry Belafonte, zuerst als Konkurrenten am New Yorker ›American Negro Theater‹. Später wurden sie beste Freunde, gemeinsam kämpften sie für Bürgerrechte. »Du kannst dir das nicht vorstellen, aber man konnte in bestimmte Stadtviertel de facto nicht rein. Polizisten gaben Schwarzen einen Strafzettel, weil sie in der falschen Gegend waren. ›Arrested for driving while black‹, wie wir immer sagten. Recht und Gesetz waren sehr relativ, wir mussten kämpfen.«

Wolke der Unantastbarkeit

Während er spricht, wird die Aura um ihn herum größer, stärker. Er saugt einen quasi ein. Plötzlich habe ich das Gefühl, einen sehr guten alten Freund wiedergetroffen zu haben, den ich lange nicht gesehen habe.

Und wahrscheinlich war es genau diese Gabe, genau dies bei seinem Gegenüber und auch bei einem Millionenpublikum auszulösen, die einen 15-jährigen Bauernsohn, den es aus dem heimatlichen Barbados nach New York verschlug, zu Zeiten beinharter Rassentrennung Wege gehen ließ, die vorher undenkbar und unmöglich waren.

Er segelte – oder besser – es wirkte, als glitt er auf einer imaginären Wolke der Unantastbarkeit durch die Unbill seiner Zeit. Schwarze sitzen hinten im Bus, Schwarze dürfen nicht auf gute Schulen, bekommen keine Jobs, leben in Quasi-Apartheid! Und Sidney Poitier spielt Hauptrollen! Leicht kann es nicht gewesen sein, sich in Hollywood durchzusetzen. Dazu spielt er diese Hauptrollen mit einer Intensität, Lässigkeit und Eleganz, die ihresgleichen sucht. Wie schafft man das? »Man muss einfach nur einen Kanal für seinen Zorn finden, sonst zerstört es einen. Am besten in etwas Positives drehen. Und die höchste Form davon ist Vergebung«. Und in meinen staunenden Blick legt Poitier nach: »I’m the me I chose to be!«

Karibisch geprägte Jugend

Egal, wie groß sein Ruhm war, nie vergaß Poitier, woher er kam. Auch als Hollywoodstar war er direkt an der Frontlinie des Bürgerrechtskampfs der Sechzigerjahre, blickte Polizeihunden in die Augen. Es ist diese Kombination von Mut, Lässigkeit, Würde, Freundlichkeit und Respekt und dazu noch unglaublich viel Charisma, die Sidney Poitier ausmachte.

»Warum hast du mich herangewunken«, frage ich. »Ich wusste sofort, du bist kein Amerikaner. So wie du wirkst, deine Kleidung, du bist anders, du bist nicht geprägt von dieser Gesellschaft.« Sidney Poitier wurde eher zufällig in Miami geboren, wuchs auf den Bahamas auf. Man täte ihm wahrscheinlich nicht unrecht, sagte man, dass dies wohl glückliche Umstände waren. So erlebte er ein liebendes Umfeld in einer karibischen Gesellschaft. Er wurde geprägt – konnte lernen und heranwachsen – ohne den täglichen US-Rassismus jener dunklen Zeit, der jedem, der »nicht blond und blauäugig« ist, einbläut: Du kannst nichts, du bist nichts, stell dich bitte hinten an. Dieses Bombardement der Du-kannst-nichts-Botschaften löst bei vielen aus, es auch zu glauben und es gar nicht erst probieren. Soziologen sprechen hier von internalisiertem Rassismus, den Poitier als Kind offenkundig nicht verpasst bekam.

Als er erstmalig beim (schwarzen) Theater vorsprach, schmissen sie ihn raus. Er, der keine Bühnenausbildung hatte, sollte bitte Teller waschen. Das hatte er aber gerade gemacht, also war er am nächsten Tag wieder da und am nächsten und am nächsten. Und zwar so lange, bis irgendwas ging.

»Schwarz, aber irgendwie anders«

Und diese »Ich-kann-was-und-will-was-Ausstrahlung« ist ansteckend. So absurd es klingen mag, passt er damit trotz allem Rassismus jener Zeit in den amerikanischen Traum: Jeder kann es schaffen. Er ist schwarz, aber irgendwie anders. Mit ihm konnten viele leben und ihn auch gut finden. Obwohl er sich immer einsetzte, immer die Fackel trug für die Sache der Schwarzen.

Poitier kommt in unserem Gespräch noch mal auf Belafonte zurück. Ein ›Best Buddy‹, ein sehr guter Freund, sei schon eine große Stütze. »Hast du auch so was, einen, der mit dir durch dick und dünn geht?« Ich nicke, seit Schulzeiten. »Gut«, sagt Poitier, »halt dir den, ist echt wichtig!«
Ich versuche zu rationalisieren, weshalb er mich so in seinen Bann zieht. Warum kann ich mich ihm nicht entziehen?

Er trägt einen grauen Anzug aus einem gestreiften schweren Wollstoff, eine bedruckte Banker-Krawatte, ein makellos gestärktes weißes Hemd mit leichtem Karomuster aus schwerer Baumwolle, natürlich ein Unterhemd. Für das klimatisch mediterrane Los Angeles eigentlich zu förmlich und wahrscheinlich auch zu warm. De facto also ziemlich old school, ein laufender Anachronismus, ein Gruß einer vergangenen Zeit.

Und genau hier setzt seine Magie ein: diese schlanke aufrechte Statur, die Kopfhaltung, das raumgreifende Sprechen mit seinen Armen und Händen. Und dazu noch dieser Blick! Funkelnd, lässig und gleichzeitig scharf, aber mit einem Schuss Gütigkeit. Trotz seines hohen Alters wirkt er zeitlos. Er spricht wie ein 40-jähriger, wirkt wie Anfang 50, ist aber über 80!

Mit Eleganz eine Glasdecke durchbrechen

In Hollywood gibt’s dafür von alters her einen Terminus: »Leading Man Looks«! Das meint so viel wie diese seltene Hauptdarsteller-Magie, die ein ganzes Projekt, einen ganzen Film trägt. Und dazu auch nicht langweilig wirkt, wenn man den Film zum dritten, zum zehnten Mal sieht.

Sidney Poitier war einer jener, die eine ganz dicke Glasdecke durchbrochen haben, und er machte das mit so einer Eleganz, dass viele nach ihm durch diese Lücke stoßen konnten. Und das weltweit!

Auch in seinem stolzen Alter füllt Poitier noch jeden Raum, auch das Morton’s mit vielen Promis. Und er hat Fragen: »Weißt du Cherno, ich wurde mit unstillbarer Neugierde geboren, wollte alles verstehen. Erzähl mir, wie geht’s Merkel in der deutschen Männerwelt? Hält eure Nachkriegsfreundschaft mit den Franzosen noch?« Er hört zu, seine Augen funkeln, er nickt, in ihm lodert es.

Er hat etwas, das man nicht lernen kann, das man nicht trainieren kann. Er ist einfach da. Und ich darf den Abend mit ihm verbringen.

Sidney Poitier ist nun von uns gegangen, aber bei mir wird er immer bleiben. Rest in Peace, sagt man. Ihm möchte ich nachrufen: Rest in Power! Und: Danke!

Erschienen in: Der Spiegel 11.01.2022