EU-Kommissarin Vestager: “Europas Wähler wollen etwas Neues”
In Berlin stellte sich die Dänin den Fragen des HuffPost Townhalls.
Margrethe Vestager ist eine der mächtigsten Frauen Europas. Facebook, Apple und Google hat sie als EU-Wettbewerbs-Kommissarin mit Millionen-Strafen überzogen.
Doch durch Berlin-Mitte schreitet sie, als wäre sie eine Touristin auf dem Weg zum Brandenburger Tor. Ohne Bodyguards, ohne große Entourage.
Die Dänin ist in die Hauptstadt gekommen, um sich unter anderem den Fragen des HuffPost-Townhall-Meetings zu stellen. Europa blickt den Wahlen im Mai entgegen, deswegen sind die ohnehin turbulenten Zeiten für Vestager noch ein bisschen turbulenter.
► Die Wahlen entscheiden nicht nur über die Zukunft des Staatenbundes, sondern auch über ihre ganz persönliche.
Gerüchten zufolge könnte Vestager die EU-Kommissionspräsidentschaft von Jean-Claude Juncker übernehmen, sollte EVP-Kandidat Manfred Weber am Widerstand der rechtspopulistischen Kräfte scheitern und keine Koalition im EU-Parlament bilden können.
Vestager will diese Mutmaßungen in Berlin nicht kommentieren – spricht aber mit HuffPost-Herausgeber Cherno Jobatey über die anstehenden Wahlen, über fairen Wettbewerb und über den richtigen Umgang mit den Internetriesen Google und Facebook.
► Aber nicht nur Cherno konnte Fragen stellen. Die HuffPost hat in ganz Europa Fragen an die EU-Kommissarin gesammelt, die sie in Berlin beantwortete – wie auch Fragen aus dem Publikum.
Lest hier das ganze Interview:
HuffPost Townhall: Sie sind bekannt geworden, indem Sie Facebook und Google in die Schranken gewiesen haben. Wie haben Sie erreicht, woran andere gescheitert sind?
Margrethe Vestager: Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich diene jedem einzelnen Europäer und damit 500 Millionen Menschen. Viele Europäer hat das Verhalten der IT-Giganten empört, die ihren Geschäftserfolg missbraucht haben. Das war der Moment, in dem es offensichtlich wurde, dass wir etwas unternehmen müssen.
Es ist nicht zu verstehen, warum wir uns in Europa nicht auf Steuergerechtigkeit einigen können.
Schauen wir auf die vielen Themen, mit denen Sie es noch aufnehmen müssen. Etwa, Steuervermeidung zu ahnden. Warum kann sich Europa nicht auf gemeinsame Regeln einigen?
Ich habe mich dasselbe gefragt. Weil es nicht zu verstehen ist, warum wir uns in Europa nicht auf Steuergerechtigkeit einigen können. Ein digitales Unternehmen zahlt im Durchschnitt neun Prozent Steuern, während jedes andere Unternehmen im Durchschnitt 23 Prozent effektive Steuern zahlt. In meinen Augen muss gelten: Wer einen fairen Wettbewerb will, muss auf dem gleichen Niveau konkurrieren. Für eine globale Lösung wäre ein europäischer Vorstoß sehr wichtig.
Eine weitere Baustelle: Wie will die EU digitale Monopole verhindern, wenn Tech-Giganten große Teile der Internetwirtschaft kontrollieren?
Es hängt davon ab, was Sie erreichen wollen. Ich habe kein Problem damit, dass Google groß ist. Die Herausforderung für uns besteht darin, auf die Daten zuzugreifen, durch die auch andere Unternehmen wachsen können. Und das treiben wir jetzt weiter voran.
Aber wie kann die EU erreichen, dass Google und Facebook ihre Daten mit der Öffentlichkeit oder anderen Unternehmen teilen?
Wir müssen diskutieren, wie wir unsere Vorstellung von essentiellen Infrastrukturen nutzen können – etwa von unseren Straßen, Stromnetzen und Abwasserkanälen. Wenn etwa ein Unternehmen Strom anbieten möchte, bitten wir dieses nicht, zuerst ein eigenes Netz zu bauen. Die Frage, die sich stellt: Ist Googles Suchmaschine eine solche essentielle Infrastruktur? Die Debatte darüber ist noch nicht abgeschlossen.
Ein Vorwurf lautet: Die EU bestraft mit ihren scharfen Wettbewerbsregeln ausländische Internet-Giganten, weil sie selbst keine hat. Was entgegnen Sie?
Ich nehme das sehr ernst. Diese Anschuldigungen habe ich schon öfter gehört. Gleichbehandlung ist eine der Grundlagen Europas. Ob ein Unternehmen groß, klein, privat oder in öffentlichem Besitz ist – das sollte keinen Unterschied machen. Wenn ich unsere Entscheidungen durchgehe, sehe ich keine Abweichung davon. Und selbst wenn es eine gäbe, haben wir unabhängige Gerichte, die das verfolgen würden.
Wenn Sie einen schnelllebigen Markt haben, muss auch die Strafverfolgung schnell sein. Und wir können noch schneller sein – etwa bei bestimmten Maßnahmen.
Nachdem Sie sich Google & Co vorgeknöpft haben: Was haben Sie sich als nächstes vorgenommen?
Wenn wir einen schnelllebigen Markt haben, muss auch die Strafverfolgung schnell sein. Und wir können noch schneller sein – etwa bei bestimmten Maßnahmen. Das werden wir bei einer Konferenz in der kommenden Woche besprechen. Bislang können wir etwa ohne ein juristisches Verfahren ein Unternehmen nicht aufhalten, wenn es sich illegal verhält. Dadurch entsteht Schaden für Wettbewerber und Kunden. Für eine solche Maßnahme sollte schon der Verdacht genügen – bevor das eigentlich Verfahren eröffnet wird.
Während über Steueroasen berichtet wird, stecken viele Europäer in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Wie wollen Sie deren Vertrauen in die EU wiederherstellen?
Viele Menschen haben in der Euro-Krise ihren Job verloren. Gleichzeitig steigt die Mehrwertsteuer und die Rente sinkt. Es schafft eine Menge Not unter den Bürgern. Und dann kommt Lux-Leaks, wo Leute erkennen, dass viele Unternehmen nichts zu unserer Gesellschaft beitragen. Und das ist völlig verständlich, dass man zuerst frustriert wird. Und dann wütend. Die Frage ist: Können wir die Art und Weise der Besteuerung irgendwie vereinfachen? Das versuchen wir gerade. Wir sind noch nicht da, aber wir haben die richtige Richtung.
Auch der Einfluss von Lobbyverbänden rüttelt an dem Vertrauen der Bürger in die EU. Wie kann auch dieses Vertrauen wiederhergestellt werden, dass in Brüssel immer noch die Politik und die Bürger das Sagen haben?
Das ist eine sehr gute Frage. Wir brauchen dafür mehr Transparenz. Damit die Leute sehen können, was passiert. In Brüssel bei der Europäischen Kommission sieht das so aus: Wenn Sie sich mit einem Kollegen treffen möchten, müssen Sie sich registrieren und das Meeting muss öffentlich sein. Es ist wichtig zu sehen, wer kommt und wer wen trifft. Lobbyarbeit als solche ist nicht unbedingt schlecht, aber einseitige Lobbyarbeit kann ein großes Problem sein.
In Griechenland sinkt die Arbeitslosigkeit – allerdings ging im Zuge der Finanzkrise auch die Zahl der gut bezahlten Jobs zurück und die der schlecht bezahlten steigt. Tut die EU hier genug, um diesem Trend entgegenzuwirken?
Es stimmt, dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Allerdings ist sie in einigen Ländern unter jungen Menschen immer noch viel zu hoch. Aber ich würde sagen, dass die Richtung stimmt. Wahr ist aber auch: Wir sind in den Bereichen Besteuerung, Investitionen und Innovation noch lange nicht dort, wo wir sein sollten. Deshalb ist es ja auch gut, dass wir eine Europawahl vor uns haben – jeder kann beitragen, dass sich Dinge bewegen.
Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärt die EU-Wahlen zu einer Auseinandersetzung zwischen einem fortschrittlichen, progressiven und einem nationalistischen Lager. Trifft diese Beschreibung zu?
Für mich ist das Wichtigste, dass die Menschen zur Wahl gehen und abstimmen. Auch diejenigen, die soweit zufrieden sind, sollten abstimmen und mit ihrer Wahl sagen, dass alles soweit gut ist. Für mich ist die EU-Wahl eine Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die die Demokratie in Europa konstruktiv nutzen wollen und denjenigen, die dieser Demokratie Schaden zufügen wollen. Zum Beispiel gibt es in Dänemark Kandidaten, die sagen: Wählt mich, dann setze ich mich dafür ein, dass die EU nicht mehr funktioniert.
Für mich ist die EU-Wahl eine Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die die Demokratie in Europa konstruktiv nutzen wollen und denjenigen, die dieser Demokratie Schaden zufügen wollen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Man kann unterschiedlicher Meinung sein, wie viel Einfluss einzelne Mitgliedsstaaten haben sollen und wie viel Einfluss Brüssel in den einzelnen Staaten hat. Auch der Fokus der EU-Politik verändert sich, heute legen wir zum Beispiel mehr Gewicht auf Sicherheit und Klimawandel als vor zehn Jahren. Über all das kann man reden. Die zentrale Frage ist aber: Will man, dass die europäische Demokratie funktioniert – oder eben nicht.
Diejenigen, die letzteres anstreben, haben vor allem in Osteuropa – aber nicht nur dort – enormen Zulauf. Haben Sie manchmal Angst, dass Europa zerbricht?
Wenn ich tatsächlich mal an einem grauen, verregneten Tag diese Angst bekomme, dann schaue ich mir ein paar Statistiken an. Die zeigen, dass in eigentlich jedem Mitgliedsstaat mehr und mehr Menschen sagen, dass es gut ist, dass wir eine europäische Demokratie haben. Angesichts von Brexit und Trump scheinen viele auf die Demokratie in Europa zu schauen und sich zu denken: Am Ende ist das gar nicht so schlecht.
Was erwarten Sie für die Europawahl?
Es mag erst einmal für manche nicht positiv klingen, aber ich glaube, wir erleben gerade eine “Dänifizierung” der europäischen Politik.
Das müssen Sie erklären.
Die Wähler in meinem Heimatland sind sehr klug. Sie lassen sich nicht leicht beeindrucken. Sie haben seit Jahrzehnten keiner Partei eine Mehrheit gegeben. Sie lassen das Parlament aus acht oder neun Parteien bestehen, die zusammenarbeiten müssen, häufig in Minderheitsregierungen. Diese müssen dann mit dem Parlament zusammenarbeiten, um Gesetze zu verabschieden.
Aber was ist daran jetzt gut?
Die Wähler wollen von uns, dass wir miteinander sprechen, dass wir zusammenarbeiten. Man muss das allerdings üben, wie wir es seit Jahrzehnten in Dänemark tun. Was in Dänemark passiert ist, passiert gerade in ganz Europa und vielleicht auch bei der kommenden EU-Wahl. Die Wähler werden vielleicht ein Parlament bestimmen, in dem es keine offensichtliche Mehrheit gibt und wo es keine offensichtliche Koalition gibt. Vielleicht wollen die Wähler etwas Neues – Dänemark zeigt, dass das eine gute Sache sein kann.
Eine zentrale Frage bei der EU-Wahl wird sein, wie wir Migration organisieren. Brauchen wir zum Beispiel mehr Migranten auf dem Arbeitsmarkt? Und warum schafft es die EU nicht, sich in der Migrationsfrage zu einigen?
Wir müssen nicht nur die Menschen integrieren, die schon hier sind. Wir brauchen auch legale Migration und Zugänge zum Arbeitsmarkt. Ich denke, es ist logisch, dass es nicht möglich sein sollte, illegal nach Europa einzureisen. Weil dann Menschen hierherkommen, die keine Rechte haben und auf dem grauen oder schwarzen Arbeitsmarkt ausgebeutet werden.
Meine Erfahrung ist, dass die Europäer nicht nur ein Herz, sondern auch den Willen haben, Flüchtlingen zu helfen. Aber sie erwarten von uns Politikern auch, dass wir eine Antwort auf die illegale Migration finden.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich eine Verantwortung aus Humanität, Flüchtlingen zu helfen und sie zu schützen. Jeder von uns würde Schutz wollen, wenn er in einer Situation wie die syrischen Flüchtlinge wäre. Denjenigen, die schon da sind, müssen wir es ermöglichen, ihre Traumata zu überwinden und auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, um das Beste aus ihren Fähigkeiten zu machen.
Zieht Europa gerade die Mauern hoch?
Hier müssen wir differenzieren und das ist schwierig. Natürlich kann man sagen, dass es keine illegale Migration geben sollte. Auf der anderen Seite wollen wir den Flüchtlingen helfen. Dann wollen wir Menschen von außerhalb Europas in den Arbeitsmarkt integrieren. Das ist alles gar nicht so einfach zusammenzukriegen.
Aber vielen Beobachtern scheint es zumindest so, als würde Europa gerade seinen Status als sicherer Hafen für Flüchtlinge verlieren.
Meine Erfahrung ist, dass die Europäer nicht nur ein Herz, sondern auch den Willen haben, Flüchtlingen zu helfen. Aber sie erwarten von uns Politikern auch, dass wir eine Antwort auf die illegale Migration finden. Eine der Antworten ist, dass wir afrikanische Staaten jetzt mehr dabei unterstützen, sich zu entwickeln. Sie müssen in der Zukunft viele viele Jobs schaffen, um den jungen Menschen in ihren Ländern eine Perspektive zu geben.
Wie kann Europa der wachsenden Islamophobie begegnen?
Wir können eine wirklich vielfältige Gesellschaft, in der sich jeder zuhause fühlt, nur erreichen, wenn wir uns alle besser kennenlernen. Unternehmen müssen neutral in ihrer Mitarbeiterauswahl sein, so dass jeder Kollegen mit einem unterschiedlichen Hintergrund haben kann. Das kann die Religion oder die Herkunft betreffen. Je besser wir uns kennen, je erfolgreicher sind wir.
Wird das genügen, um den Zulauf für die Rechtspopulisten zu stoppen? Und was könnte ihn stoppen?
Die wichtigste Aufgabe ist, dass wir als Politiker unseren Job gut machen. Deshalb widme ich mich mit aller Kraft den Aufgaben meines Mandates als Wettbewerbs-Kommissarin. Manchmal muss man Dinge einfach umsetzen, um zu zeigen, dass man Wandel will. Auch wir Politiker müssen uns wandeln. Wir müssen offener sein und transparenter.
Dieser Artikel erschien in HuffPost Deutschland 10.1.2019
Für die bessere Lesbarkeit haben wir im Wortlautinterview die Reihenfolge der Fragen verändert und die Fragen sprachlich leicht überarbeitet.