Hymne an die Hauptstadt von Cherno Jobatey
Frisch Eingewanderte, insbesondere Schwaben, erkennt man hier in Berlin schnell daran, dass sie einfach nicht verstehen, dass Kundenfreundlichkeit in der Hauptstadt bedeutet: Der Kunde muss freundlich sein, sonst kriegt er nix. „Meckern ist der Stuhlgang der Seele!“ Die Schnauze, der wir Berliner uns so stolz rühmen, ist nie zuverlässig mit “Herz“ verknüpft: Ob Bus- oder Taxifahrer, Fahrradkurier oder Sportwagenkapitän, Hundeherrchen oder auch -frauchen, ob Verkäuferin oder Kneipier, Schrebergärtner oder Villenbesitzer: Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Der Hauptstädter, egal wo er ursprünglich herkommt, fühlt sich stets und ausschließlich von Idioten umgeben. Und da wird man sich ja wohl noch ein wenig Luft machen dürfen!
Kunstvolles Meckern kann als Ausweis gelungener Integration des Neuzuganges betrachtet werden. Glauben Sie nicht? Gehen Sie mal wieder auf den Wochenmarkt und hören Sie den Packern an den Obstständen zu!
Meckern ist in Berlin kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Ob Adolf Glaßbrenners Eckensteher Nante oder Gustav, der Junge, der bei Erich Kästner Emil hilft, den Dieb zu fassen, ob Otto Reutter, Claire Waldoff oder Heinrich Zille. Alle wussten schon immer: Der Berliner hat das Meckern zur Kunstform erhoben!
Als ich als Teenie in einer Charlottenburger WG hauste, da haben wir das gebraucht: Unsere Stadt schmückte sich als: „Berlin – durchgehend geöffnet!“ Viele Besucher kamen, und was haben wir uns aufgeregt! „Diese Wessi-Touris!“ Dabei war der Tourismus neben den Steuervorteilen damals der wahrscheinlich einzige Wirtschaftszweig, der echtes Geld in die Stadt brachte. Heute würde man sagen: Janz Berlin war uff Hartz IV.
Und dann die Uni mit ihren hochpolitisierten Studenten: egal ob Umstellung des BAföG von Stipendien auf Darlehen, Erhöhung des Preises fürs Studententicket um 4 Mark monatlich oder die Eröffnung von gutbürgerlichen Restaurants in der autonomen Oranienstraße: Meckern, hier: studentischer Protest, setzte reflexhaft ein.
Letzte Saison wird Hertha fast Meister. Alle wissen es besser, der Manager „geht“ vorzeitig. Jetzt ist Hertha im Keller, alle wussten es schon immer besser.
Und deshalb: Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Wer das nicht ertragen kann oder will, der muss nach Freiburg ziehen, da sind die Leute alle immer nett.
Ist ja nicht so, dass wir nicht auch charming sein können, wir sind nur eigen und anders. Trifft man hier den Regierenden auf der Straße und grüßt ihn mit „Hallo, Landesvater“, dann antwortet der prompt mit „Hallo, Landeskind“. Kaum vorstellbar beispielsweise in Schwerin.
Um es klar zu sagen: Ich bin einer von hier, Lokalpatriot, und lebe gern in Berlin. Manchmal hilft ja auch Außenwahrnehmung: Wenn man in der Welt rumreist und auf die Frage, wo man denn herkomme, Berlin sagt, ist die Reaktion immer ähnlich: „Berlin? How cool is that…!“ Aber man muss gar nicht weit weg, man trifft die Welt auch hier: Neulich geriet ich in einem Café in Prenzl‘berg in eine Gruppe von Auto-Design-Studenten des weltberühmten Pasadena-Design-Centers. Der dreimonatige Aufenthalt war nicht dazu gedacht, Berlins berühmte (nicht vorhandene) Autoindustrie zu studieren. Nein, diese US-Studenten, die im Gegensatz zu Deutschen selten arm sind, ziehen um die Welt, und unsere Stadt gilt für Industrie-Designer als eines jener Zentren, in denen man Energie und Kreativität tankt.
Die Kalifornier können dem staunenden Einheimischen Dinge erzählen, die einem selbst nie aufgefallen wären: der Stilmix, den Leute hier betreiben, wie sie sich anziehen, wie sie wohnen, wie sie ihr Leben organisieren. Das sei in dieser Konzentration und in seiner Konsequenz einzigartig in der Welt. Der Mix der Kulturen, nicht ihr Nebeneinanderher, das sei hier eine Art Freilandlabor. Hätten Sie das gedacht?
Was an Berlin nervt? Wenn überhaupt was, dann gehen wir uns ja wohl selbst auf die Nerven und sollten deshalb den 80 Jahre alten Rat von Claire Waldoff befolgen:
„Wer schmeißt denn da mit Lehm? Der sollte sich was schäm’. Und sollte och was andres nehm’, als ausjerechnet Lehm!“
erschienen in: BILD 20.10.2009