Plattenpiraten nutzen eine Gesetzeslücke – unautorisierte Live-CDs sind der große Renner.
Die Untertanen Ihrer zierlichen Majestät sind entzückt. Erstmals können sie in deutschen Plattenläden Live-Aufnahmen ihres Idols kaufen, des 32jährigen Pop-Zaren Prince aus Minneapolis. “Jack U off”, heißt anmacherisch die CD, zu deutsch etwa: “Hol dir einen runter.”
Für 35 Mark bietet beispielsweise die Münchner Filiale der Handelskette World of Music (Wom) die Silberscheibe an, aus demselben Regal kann sich der Kunde mit einem Dutzend verschiedener Konzertmitschnitte der Rolling Stones versorgen. Doch von dem Verkaufserlös sehen die Musikanten kaum einen Pfennig: Nur eine einzige Stones-CD ist von ihrer Plattenfirma abgesegnet, der Rest, genau wie Prinzens Platte, fällt unter die Kategorie der unautorisierten Veröffentlichungen.
Immer mehr solcher sogenannten Bootlegs überschwemmen den stark expandierenden deutschen CD-Markt (Jahresumsatz 1989: 56,9 Millionen Mark). Einst wurden sie unter dem Tisch zu exorbitanten Preisen als Raritäten gehandelt, jetzt sind sie plötzlich Massenware, die manchmal nur zehn Mark kostet. Clevere Strategen, die am CD-Boom teilhaben wollen, haben nämlich einen Trick entdeckt, mit dessen Hilfe sich die sonst rigiden Künstlerschutzrechte aushebeln lassen.
Zwar schützt das 1961 in Rom geschlossene Internationale Leistungsschutzabkommen die Rechte der Künstler an ihren öffentlichen Aufführungen, manche Staaten jedoch wie die USA haben den Vertrag nicht unterzeichnet. Diesen Umstand machen sich die sogenannten Piraten zunutze.
Während deutsche Sangesbrüder gerichtlich unerwünschte Konzertmitschnitte verhindern können, fällt dies ihren amerikanischen Kollegen schwerer. In den USA ist die Tonfolge eines Songs geschützt, nicht jedoch deren Darbietung. Schmachtet Prince aus voller Goldkehle seinen Evergreen “Purple Rain”, so ist die Verbreitung der Bühnenfassung in Deutschland durch Dritte kaum mehr als eine Formsache. Der Bootlegger muß lediglich die Tantiemen für die Kompositionen an die hiesige Urheberschutz-Gesellschaft Gema entrichten – der Künstler schaut in die Röhre.
In den USA liegen alle Rechte üblicherweise bei den Produzenten, also den Medienkonzernen, und sind ohne Rücksprache mit den Musikern übertragbar. Eine Änderung dieser Lage würde eine erhebliche Stärkung der unter Vertrag genommenen Künstler bedeuten. Die Unterhaltungsindustrie beharrt folglich eisern auf dem Status quo.
Die neuerdings in der Bundesrepublik lebhaft gehandelten CD-Livemitschnitte stammen fast ausschließlich von Konzerten, die Musiker vor amerikanischem Publikum gegeben haben. Grünes Licht für Kopierwerke und Handel gab im Januar 1990 das Bundesverfassungsgericht (BVG).
Die Karlsruher Richter wiesen eine Klage Bob Dylans und seiner Plattenfirma CBS, die inzwischen vom japanischen Giganten Sony geschluckt wurde, gegen in Deutschland zirkulierende Konzertaufnahmen des krächzenden Barden ab. Begründung: Es sei “mit der Eigentumsgarantie und dem Gleichheitssatz vereinbar, ausländischen Interpreten für Auslandsdarbietungen Inlandsschutz nur bei verbürgter Gegenseitigkeit zu gewähren”.
Deutsche Interpreten werden in den USA nach den dortigen Gesetzen behandelt, also müssen sich die Stars von drüben nicht wundern, wenn sie hierzulande ebenfalls grob angefaßt werden, lautet die Lehre aus dem Urteil. Zementiert wurde der Freiraum für Plattenpiraten auch in der Hoffnung, die USA auf diese Weise zur Unterzeichnung des Rom-Abkommens zu bewegen.
Nach dem Richterspruch gingen Bootlegger wie Dieter Schubert, 30, Teilhaber bei den Luxemburger Swinging Pig Records und Chef der Vertriebsfirma “Perfect Beat”, prompt in die Offensive. Mittlerweile vertreibt der Pop-Promoter 75 Live-CDs; neuester Renner ist die Dreifachbox “Rolling Stones, Atlantic City ’89”, ein digitaler Radiomitschnitt. Solchen Kopien verleiht der wendige Schubert gern höhere Weihen: Sie seien “keine schlichten Hitsammlungen, sondern musikhistorische Aufnahmen”.
In den Augen von Michael Regorz, 33, Justitiar beim Plattenkonzern Wea, ist dies jedoch die Ideologie des Parasiten. “Bei null Kosten”, wettert er, “hängen sich solche Firmen hintenran. Die verschaffen sich einen klaren Wettbewerbsvorsprung auf Kosten der Industrie, denn unsere Produktionen belaufen sich auf durchschnittlich 200 000 Mark plus Werbung.”
Um diesen Punkt geht derzeit ein Juristen-Hickhack. Nach Auffassung von Martin Schaefer, 30, Justitiar des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft, ist Leistungsschutz “in erster Linie Schutz kreativer Leistung”, Bereiche des Wettbewerbsrechts müssen “daneben auch anwendbar bleiben”. Bootlegger Schubert hingegen sieht keine Trennung zwischen Kunst und ihrer Vermarktung – die Frage des Wettbewerbs, meint er, sei “im BVG-Urteil abschließend behandelt worden”.
Mehrere Musterprozesse sollen das Zwielicht aufhellen, keine Partei konnte bisher entscheidend siegen. Als zusätzliches Argument gegen die fixen Plattenpiraten führen die etablierten Konzerne neuerdings, mit einigem Erfolg, die oft mäßige Tonqualität der Bootlegs ins Feld.
Die Landshuter Firma Imtrad etwa, von der Wea verklagt wegen der angeblich rufschädigend schlechten Qualität eines Mitschnitts, mußte die CD vom Markt nehmen. Zudem wurde sie mit einer Schmerzensgeld- und Schadensersatzforderung des betroffenen Künstlers in Höhe von 250 000 Mark konfrontiert. Sony indes versuchte erst gar nicht, die “Rolling Stones in Atlantic City”-CD aus dem Handel zu klagen.
Diese und ähnliche Verfahren befinden sich allesamt, oft aufgrund einstweiliger Verfügungen, in der Schwebe. Bis zur letzten Instanz werden wohl noch viele CDs über den Ladentisch wandern.
“Um nicht jahrelang zu prozessieren”, hat “Swinging-Pig”-Schubert der Industrie “ein Angebot gemacht, Lizenzen zu zahlen, aber ein Gesprächstermin kam bis heute nicht zustande”. Justitiar Schaefer nennt die scheinbar großzügige Offerte des Kontrahenten “ein schräges Geschäftsverhalten. Die produzieren erst und wollen nachträglich die Ware autorisieren lassen, indem sie Lizenzen zahlen”.
Solange weder Einigung noch höchstrichterliche Entscheidung vorliegen, achten die Bootlegger besonders auf die Qualität ihrer Produkte – eine technisch einwandfreie Dire-Straits–CD der Imtrad blieb bislang, im Unterschied zu hastig aufgenommenen Nummern anderer Interpreten, unbeanstandet. Falls es dennoch rauscht und rumpelt, soll ein schlichter Aufdruck dem Vorwurf der Täuschung des Konsumenten vorbeugen: “Carefully remastered” – sorgfältig aufbereitet.
Erschienen in: DER SPIEGEL 11/1991